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Kontext

Jüdische Bevölkerung in Berlin

Jüdische Bevölkerung in Berlin

1933 lebten mehr als 160.000 Juden:Jüdinnen in Berlin – verteilt in der ganzen Stadt. Um der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime zu entkommen, wanderten nach dem 30. Januar 1933 viele Juden:Jüdinnen aus. Andere zogen nach Berlin, um dem Antisemitismus in kleineren Orten zu entgehen. Rund 1.500 jüdische Menschen wurden 1938 im Rahmen der „Polenaktion“ an die deutsch-polnische Grenze abgeschoben. Anfang 1939 lebten nur noch etwa 78.700 Juden:Jüdinnen in der Stadt.

Die Karte 1933 zeigt die jüdische Bevölkerung Berlins im Juni 1933.
Die
Karte 1939 die jüdische Bevölkerung Berlins im Mai 1939.

Nicht enthalten sind in beiden Karten Personen nichtjüdischen Glaubens, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Juden:Jüdinnen galten und ebenfalls verfolgt wurden. 1939 waren dies rund 3.700 Menschen; für 1933 existieren keine Angaben.

Zwangsumzüge in Berlin 1939–1945

Zwangsumzüge in Berlin 1939–1945

Die Karte zeigt schematisch die Umzugsbewegungen der Juden:Jüdinnen, die nach dem „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 in Zwangswohnungen ziehen mussten. Deutlich zu erkennen ist die Konzentration in den Mietshäusern in der Innenstadt.

Durch den Abgleich der Volkszählungsdaten von 1939 mit den überlieferten Transportlisten der Jahre 1941 bis 1945 konnten die Zieladressen der Zwangsumzüge identifiziert werden. Dabei wurden alle Häuser berücksichtigt, in die nach Mai 1939 mehr als fünf jüdische Personen einzogen. Erfasst wurden nur Menschen, die deportiert wurden, und keine Mehrfachumzüge. Die tatsächlichen Zahlen können nur durch qualitative Forschung bestimmt werden. Die Umzüge in die 27 Heime und Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde Berlin sind nicht auf der Karte abgebildet.

Datenbearbeitung von Henning Borggräfe, 2023

Hausgeschichten

Es gab mindestens 791 Häuser in Berlin, in denen sich Zwangswohnungen befanden. 32 davon haben wir genauer erforscht.

Zu den Häusern

Einführung

Zwangsräume und Zwangswohnungen:
Begriffe und Definitionen

Als „Judenhäuser“ bezeichnet man heute oft Häuser, in die Juden:Jüdinnen zwangsweise eingewiesen wurden. Tatsächlich wurden diese Häuser während des Nationalsozialismus so genannt. In späteren Erzählungen lebte der Begriff dann fort. Ob ihn auch die nationalsozialistischen Behörden gebrauchten, ist unklar. Sie benutzten den Begriff „Judenwohnungen“ für Wohnungen mit jüdischen Mieter:innen – unabhängig davon, ob die Personen freiwillig dort lebten oder ob sie gezwungen wurden, dort einzuziehen.

Weil beide Begriffe abwertend und nicht eindeutig sind, verwendet dieses Projekt sie nicht. Stattdessen ist von „Zwangsräumen“ für Häuser und „Zwangswohnungen“ für einzelne Wohnungen die Rede.

Alle Häuser, in denen sich Zwangswohnungen befanden, waren mindestens bis Mai 1939 im Eigentum von Juden:Jüdinnen. Nach dem Erlass des „Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden“ im April 1939 mussten vermehrt jüdische Menschen dort einziehen, wenn ihnen ihre ursprüngliche Wohnung gekündigt worden war. Die bisherigen jüdischen Mieter:innen wurden nicht gefragt: Sie mussten ohne ihr Einverständnis die neuen Untermieter:innen aufnehmen. Grundsätzlich waren alle Umzüge genehmigungspflichtig, auch zu Verwandten oder Freund:innen. Damit konnten Juden:Jüdinnen seit Frühjahr 1939 ihren Wohnort nicht mehr frei wählen. Für die meisten Menschen waren die Zwangswohnungen die letzte Bleibe vor der Deportation und Ermordung.

Von den Einweisungen in Zwangsräume waren auch Menschen betroffen, die sich selbst nicht zum Judentum bekannten, aber nach den „Nürnberger Gesetzen“ wegen der Religionszugehörigkeit ihrer Eltern und Großeltern als Juden:Jüdinnen galten. Unter das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ fielen auch die Ehepartner:innen sogenannter „nichtprivilegierter Mischehen“ zwischen jüdischen Männern und nichtjüdischen Frauen. Anders die Ehepartner:innen in sogenannten „privilegierten Mischehen“ zwischen nichtjüdischen Männern und jüdischen Frauen: Sie waren von den Zwangseinweisungen nicht betroffen.

„Meine Mutter und ich hatten in die Bamberger Straße 12 umziehen müssen, das eines der sogenannten jüdischen Häuser war. Dort wohnten elf Personen in 5,5 Zimmern. In dieser Wohnung gab es nur ein Bad und eine Küche.“
Zitat aus Inge Deutschkron: Ich trug den gelben Stern, Köln 1983, S. 94

Berliner Mietshäuser

Im Deutschen Kaiserreich entwickelten sich in Berlin ab 1871 feste Formen der Bebauung. Die Brandschutz- und Bauordnung legte die maximale Höhe der Häuser auf 22 Meter fest. Deswegen wuchsen die Gebäude hinter den Fassaden in die Tiefe: Vor allem in den Innenstadtbezirken entstanden große Komplexe mit Hinterhäusern, Seiten- und Gartenflügeln. In einem Haus befanden sich oft mehrere Dutzend Mietwohnungen.

Der Großteil der Berliner Bevölkerung wohnte zur Miete. Die sozialen Unterschiede zeigten sich in der Ausstattung der Wohnungen: Die beste Wohnung, die oft von den Eigentümer:innen selbst bewohnt wurde, befand sich meist im ersten Stock. In den oberen Etagen und in den Hinterhäusern sowie Seitenflügeln waren die Räume in der Regel niedriger, kleiner und schlichter ausgestattet. Gleichzeitig gab es auch zwischen den einzelnen Stadtteilen erhebliche Unterschiede. Während beispielsweise in Wilmersdorf WCs in den Vorderhauswohnungen Standard waren, mussten sich die Bewohner:innen vieler Häuser im Wedding ihre Toiletten mit mehreren Parteien teilen.

Die meisten Zwangsräume waren Mietshäuser; in einzelnen Fällen wurden Juden:Jüdinnen aber auch in kleinere Häuser eingewiesen.

Luftaufnahme vom Belle-Alliance-Platz (heute Mehringplatz), die typischen Berliner Mietshäuser sind gut zu erkennen, 1935, Foto: Gloria Grambow. Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (02) Nr. II10353
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Der „Illustrierte Beobachter“ blendet in seinem Bericht Streit, Überwachung, Not, Ängste und auch Zwangsräume aus.

Antisemitische Wohnungspolitik vor 1939

Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft mussten Juden:Jüdinnen massive Beschränkungen ihrer Wohnsituation hinnehmen. Durch die zahlreichen antisemitischen Maßnahmen, wie die Verdrängung aus vielen Berufen und die Übernahme jüdischer Unternehmen, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung seit 1933 immer mehr. Viele Juden:Jüdinnen verarmten.

Aus finanziellen Gründen waren viele Juden:Jüdinnen gezwungen, in kleinere Wohnungen zu ziehen. Gleichzeitig schlossen die Berliner Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften ab 1936 jüdische Mitglieder und Mieter:innen aus und suchten Vorwände, um sie zu vertreiben. Ab 1938 gingen die Wohnungsbaugesellschaften dazu über, Juden:Jüdinnen ohne Grund zu kündigen.

„Sämtliche jüdischen Mieter sind unter Gewährung einer angemessenen, aber nicht zu langen Räumungsfrist […] zur Räumung ihrer Wohnung aufzufordern mit der Begründung, daß die arischen Mitbewohner sich die Störung der Hausgemeinschaft nicht mehr gefallen lassen wollen und daß außerdem die Wohnungen dringend für arische Familien benötigt werden.“
Quelle: Dienstanweisung der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft Berlin m.b.H. (GSW), 1. September 1938, LAB, A Rep. 009 Nr. 250

Der Bericht über gerichtliche Schritte gegen jüdische Mieter:innen zeigt: Bereits vor 1939 war die Stimmung auch im Bereich der Wohnungspolitik stark antisemitisch.

In jedem Gebiet, das vom Deutschen Reich besetzt wurde, verstärkte sich auch die antisemitische Propaganda. Selbst private Briefe wurden durch Klebemarken zu Propagandamitteln.

Gesetz

„Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939

Das reichsweit gültige Gesetz erlaubte es, Juden:Jüdinnen in Zwangswohnungen einzuweisen und sie damit lokal zu konzentrieren. Es beschränkte die Möglichkeit jüdischer Menschen, ihre Wohnsituation selbstbestimmt zu gestalten, auf ein absolutes Minimum.

  • Das Gesetz hob den Mieter:innenschutz für jüdische Mieter:innen bei nichtjüdischen Vermieter:innen auf. Nichtjüdische Vermieter:innen durften ihren jüdischen Mieter:innen damit jederzeit ohne weitere Gründe und mit wenigen Wochen Räumungsfrist kündigen.
  • Lokale Behörden bekamen Zugriff auf den Wohnraum von Jüdinnen:Juden bei jüdischen Vermieter:innen. Sie durften ohne Zustimmung der Bewohner:innen weitere jüdische Mieter:innen in die Wohnungen einweisen.
„[Dann] kam das Gesetz, dass die noch verbliebenen Juden in Berlin [...] in so genannte ‚Judenhäuser‘ umziehen müssen. Wir wurden in ein ‚Judenhaus‘ in unserer Nähe, Mommsenstraße 42, Ecke Waitzstraße, eingewiesen, eine sehr schöne, große Altbauwohnung. Weitere vier oder fünf jüdische Familien lebten dort zusammen.“
Inge Borck, Zitat aus: Jüdische Berliner. Leben nach der Shoa: 14 Gespräche, Berlin 2003, S. 43, hg. von Ulrich Eckhardt/Andreas Nachama
Weißer „Judenstern“. Ab 26. März 1942 musste jede Wohnung, in der mindestens eine jüdische Person lebte, mit einem Stern aus Papier gekennzeichnet werden. Quelle: Undatierter Entwurf, Bundesarchiv, R 8150/19
Foto von gekennzeichneten Wohnungen
Gekennzeichnete Wohnung. Eins der raren Fotos eines weißen „Judensterns“ an einem Hauseingang stammt aus der Kleinstadt Hattingen bei Dortmund. Es wurde am 28. April 1942 bei der Deportation der Jüdinnen:Juden aufgenommen, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Stadtarchiv Hattingen, Fotosammlung Scan-0126
„Wir hatten bereits keine Rechte als Mieter mehr und konnten jederzeit gekündigt werden. Wer seine Wohnung verlor, wurde in sogenannte Judenhäuser einquartiert, Häuser, deren Besitzer Juden waren, die man noch nicht enteignet hatte. Wer noch eine eigene Wohnung hatte, bekam Untermieter zugewiesen. So wurden die Berliner Juden allmählich auf immer weniger Raum zusammengepfercht.“
Zitat aus Margot Friedlander: „Versuche dein Leben zu machen“. Als Jüdin versteckt in Berlin, Berlin 2010, S. 80 f.

Akteure

Generalbauinspektor

In Berlin war Generalbauinspektor (GBI) Albert Speer die zentrale Instanz, die den „Wohnungsmarkt“ für jüdische Mieter:innen kontrollierte. Als Architekt war Albert Speer für zahlreiche Monumentalbauten verantwortlich. Als GBI stand er einer gleichnamigen Behörde vor, die umfangreiche Befugnisse hatte. Albert Speer wollte Berlin zur „Welthauptstadt Germania“ umgestalten. Wohnhäuser, die seinen „Germania“-Plänen im Wege standen, sollten abgerissen werden. Vor allem im Süden Berlins sollten viele Mietskasernen einer gigantischen „Nord-Süd-Achse“ mit repräsentativen Gebäuden weichen. Nichtjüdischen Mieter:innen der zum Abriss vorgesehenen Gebäude vermittelte der GBI Ersatzwohnungen. Angesichts des knappen Wohnraums waren das vor allem Wohnungen, die Juden:Jüdinnen bewohnten. Sie wurden vom GBI zum Auszug gezwungen.

Um sicherzustellen, dass die entsprechenden Häuser nicht in seinem Interessensgebiet lagen, und um bei Bedarf über die Wohnungen zu verfügen, mussten alle Mietverträge für Zwangswohnungen dem GBI zur Genehmigung vorgelegt werden. Auch wenn „Germania“ nie fertiggestellt wurde, war der GBI damit ein wesentlicher Akteur bei der Einweisung von Juden:Jüdinnen in Zwangswohnungen.

Modell von „Germania“. Oben ist die geplante „Große Halle des Volkes“ zu sehen – dort, wo sich heute in etwa der Berliner Hauptbahnhof und das Kanzleramt befinden. Mittig ist die geplante „Nord-Süd-Achse“ zu erkennen, für die zahlreiche Mietshäuser abgerissen werden sollten, Aufnahmedatum und Fotograf:in unbekannt. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146 III-373

Wohnungsberatungsstelle

Nach dem Erlass des „Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden“ war die unter der Kontrolle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) stehende Jüdische Gemeinde Berlin angewiesen, neue Unterkünfte für die aus ihren Wohnungen vertriebenen jüdischen Mieter:innen zu finden. Hierzu richtete sie die sogenannte Wohnungsberatungsstelle ein.

„Am 1. Mai 1939 wurde ein Gesetz erlassen, demzufolge Juden zu Gunsten von nicht-jüdischen Mietern ihre Wohnungen räumen sollten. Die Durchführung lag zunächst bei dem Generalbauinspektor und dem Hauptplanungsamt der Stadt Berlin. Auf Wunsch dieser Behörden und der Gestapo wurde die Jüd. Gemeinde in die Räumungsverfahren eingeschaltet. Der Vorstand der Gemeinde war zur Mitarbeit bereit in der berechtigten Annahme, daß man viele Härten würde mildern können.“
Dr. Martha Mosse (Leiterin der Wohnungsberatungsstelle), Zitat aus: Bericht: 23./24. Juli 1958, Anlage 2, LAB, B Rep. 235-07, MF 4170, S. 8

Bei den neuen Unterkünften handelte es sich ausschließlich um Wohnungen in Häusern, die am 5. Mai 1939 eine:n jüdische:n Eigentümer:in hatten. Auch wenn diese Gebäude später fast alle zwangsweise verkauft oder versteigert wurden, galten sie weiterhin als „jüdisch“.

Die Wohnungsberatungsstelle vermittelte vor allem Wohnraum in Wohnungen, in denen bereits andere Juden:Jüdinnen wohnten. Das hieß: Vor allem in großen Wohnungen lebten neben den Hauptmieter:innen oft mehrere Untermieter:innen in den verschiedenen Zimmern. Um Informationen über den verfügbaren Wohnraum sowie die Lage, Größe und Ausstattung der Wohnungen zu erhalten, beschäftigte die Wohnungsberatungsstelle sogenannte Wohnungsermittler:innen, die die Wohnungen vor Ort in Augenschein nahmen.

„Acht Wochen lang bin ich als Rechercheur durch alle jüdischen Wohnungen Schönebergs gezogen, mit Metermaß, Bleistift und einem gewissen autoritären Druck, und habe jüdische Familien, die vorher nur provisorisch untergekommen waren, richtig unter Dach und Fach gebracht.“
Aussage Else Jacobus (damalige Mitarbeiterin der Wohnungsberatungsstelle als „Wohnungsermittlerin“ im Außendienst), zitiert nach: Susanne Willems: Der entsiedelte Jude, 2. durchgesehene Aufl., Berlin 2018, S. 382

Die Wohnungsberatungsstelle musste die Weisungen des GBI ausführen und auch Zwangsumquartierungen anordnen. Damit instrumentalisierten die nationalsozialistischen Behörden die Stelle ebenso wie andere Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde.

„Das Haus ist in jüdischem Grundbesitz. Wir sind vom Herrn Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt ermächtigt, in die Wohnung einen neuen jüdischen Hauptmieter einzuweisen.“

Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg und Oberbürgermeister von Berlin

Die Nazis verschleppten die meisten Berliner Jüdinnen:Juden ab 1941 in Ghettos und Vernichtungslager und ermordeten sie dort. Zuständig für die Deportationen war die Gestapo. Anschließend beschlagnahmte die Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg (OFP) das Eigentum der Deportierten, auch das zurückgelassene Hab und Gut in den Zwangswohnungen. Weil die Wohnungen nach einer Deportation oft monatelang versiegelt waren, beglich der OFP auch die Mietzahlungen an die Hauseigentümer:innen – aus dem geraubten Vermögen der Deportierten.

Vor der Deportation mussten alle Juden:Jüdinnen eine Vermögenserklärung ausfüllen und genaue Angaben über ihren Besitz machen, auch über Möbel und Kleidungsstücke. Die im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam überlieferten Dokumente sind heute eine wichtige Quelle für die Erforschung der Zwangswohnungen: Sie offenbaren Details über die jeweiligen Wohnungen und geben oft auch Auskunft über die Verweildauer der Bewohner:innen.

Ab Dezember 1942 war das Hauptwirtschaftsamt des Oberbürgermeisters von Berlin für das Vermögen der deportierten Juden:Jüdinnen zuständig: Es bewertete, räumte und verkaufte das Eigentum der Verschleppten. Die Abholung der Möbel übernahm unter anderem eine private Spedition. Die Gewinne aus den Verkäufen flossen über den OFP in die Staatskasse des Deutschen Reiches.

„Meine Aufgabe bei der [Spedition] Scheffler ist es in der Hauptsache, sämtliche Judenwohnung[en] zu besichtigen und abzuschätzen. […] Wenn eine Judenwohnung geräumt werden soll, begebe ich mich zu der Wohnung [,] besichtige dieselbe und schätze ab, was wir für einen Möbelwagen dazu benötigen zum Abtransport.“
Zeitgenössische Aussage eines Mitarbeiters der Spedition Scheffler, die Transporte für die Gestapo übernahm, vom 7. April 1943, LAB, A Rep. 358-02 Nr. 6505

Das Hauptplanungsamt des Berliner Oberbürgermeisters hatte die Befugnis, eine durch Deportation frei gewordene Wohnung zu beschlagnahmen und an nichtjüdische Personen zu vermieten oder sie für „kriegswichtige“ Zwecke freizuhalten. Nur wenn die nationalsozialistischen Behörden keine Verwendung für die Wohnung hatten, wurde sie weiterhin als Zwangsunterkunft für andere Juden:Jüdinnen genutzt.

Umsetzung

Aufhebung des Mieter:innenschutzes (Mai 1939–Januar 1941)

Als das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ von April 1939 den Mieter:innenschutz für Jüdinnen:Juden aufhob, begann die Einweisung in Zwangswohnungen. Nun kündigten die ersten nichtjüdischen Vermieter:innen ihren jüdischen Mieter:innen – in Eigeninitiative und ohne Anweisung einer Behörde. Viele betroffene Juden:Jüdinnen konnten zunächst zu Verwandten oder Bekannten ziehen. Den übrigen wies die Wohnungsberatungsstelle der Jüdischen Gemeinde Wohnraum zu. Weil durch Flucht und Emigration immer wieder Wohnungen und Zimmer bei jüdischen Vermieter:innen frei wurden, hatte die Wohnungsberatungsstelle in dieser ersten Zeit noch Handlungsspielräume, um bei der Zuteilung auch die Interessen der Mieter:innen zu berücksichtigen.

„Anfang April 1939 erhielt Dr. Arndt die Mitteilung, er müsse in eine neue, ‚passendere‘, das heißt schäbigere und kleinere, Wohnung umziehen. [...] Die Familie zog in eine kleine Zweizimmerwohnung in der Oranienstraße 206. Das fünfstöckige Gebäude in der freudlosen Geschäftsstraße war von den Behörden zum ‚Judenhaus‘ erklärt worden.“
Zitat aus Barbara Lovenheim: Überleben im Verborgenen. Sieben Juden in Berlin. Ein Bericht, Berlin 2002, S. 31 

Systematische Wohnungsräumungen (Januar 1941–März 1943)

Da der Generalbauinspektor (GBI) schneller mehr Wohnungen für seine Zwecke haben wollte, führte er ab Januar 1941 „Räumungsaktionen“ durch: Jüdische Mieter:innen mussten Wohnungen, die in nichtjüdischem Besitz waren, innerhalb einer sehr kurzen Frist verlassen und in Zwangswohnungen ziehen. Bei insgesamt vier „Aktionen“ ließ der GBI zwischen Januar 1941 und Januar 1943 rund 5.000 Berliner Wohnungen „räumen“. Ab Oktober 1941 wurden die betroffenen Juden:Jüdinnen nicht mehr nur in Zwangswohnungen eingewiesen, sondern auch deportiert. In dieser Zeit mussten besonders viele Juden:Jüdinnen ihren Wohnort innerhalb von Berlin wechseln, oft nur übergangsweise für wenige Wochen oder Monate vor ihrer Deportation. Als Anfang 1943 die in den Rüstungsbetrieben eingesetzten jüdischen Zwangsarbeiter:innen deportiert wurden, ließ der GBI besonders viele Zwangswohnungen räumen.

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„Unsere Familie musste in das ‚Judenhaus‘ Turmstraße 9 umziehen. Wir waren jetzt Untermieter in anderthalb Zimmern, mit gemeinsamer Küchen- und Toilettenbenutzung; es war ein totaler sozialer, gesellschaftlicher und grauenvoller Abstieg.“
Zitat aus Horst Selbiger: Verfemt – verfolgt – verraten. Abriss meines Lebens, Baunach 2018, S. 76
Wohnungs-Nachweis. Der GBI hatte einen genauen Überblick über die Wohnungen in allen Bezirken, die an Juden:Jüdinnen vermietet waren, 21. April 1942. Quelle: Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 107 Nr. 401

Nach den Massendeportationen (März 1943–Mai 1945)

Nach dem Ende der Massendeportationen aus Berlin im März 1943 lebten nur noch wenige jüdische Menschen in der Stadt: einige Tausend untergetauchte Juden:Jüdinnen, die sich vor der Gestapo versteckten, und die jüdischen Partner:innen in sogenannten „Mischehen“. 1945 waren dies etwa 4.000 jüdische Menschen. Sie lebten in den wenigen noch verbliebenen Zwangswohnungen. In alle übrigen einstigen Zwangswohnungen waren nach den Deportationen neue, nichtjüdische Mieter:innen eingezogen.

„Wir wohnten damals Kurfürstendamm/Ecke Waitzstraße in einem wunderbaren Altbau, in den typischen Kurfürstendammhäusern, es war eine riesen Wohnung […] Als die Deportationen begannen, wurden es immer weniger, da wurde ‘mal diese Familie deportiert, ‘mal diese Familie, und dann passierte plötzlich, daß alle Juden ‘raus waren und nur mein Vater, meine Mutter und ich, wir blieben ganz allein in dieser ehemals vollmöblierten 16‑Zimmerwohnung zurück. [...]. Es kam ‘raus, daß wir ganz alleine als ‚Mischehe‘ diese riesen Wohnung hatten, allerdings ging das auch nicht sehr lange, denn dieses Haus wurde Mitte 1943 von einer Bombe getroffen und brannte dann vollständig ‘runter.“
Hans-Oscar Löwenstein de Witt, Zitat aus: Interview mit Hans-Werner Erhardt/Akim Jah, 1995

In den Zwangswohnungen

Für die Betroffenen bedeutete das Leben in einer Zwangswohnung einen Verlust an Privatsphäre, verbunden mit starken Einschränkungen im Alltag. Das Zusammenleben mit mehreren zum Teil bis dahin Unbekannten in einer Wohnung und vor allem die gemeinsame Nutzung von Bad und Küche waren oft sehr belastend. Dass die Neueingezogenen aus ihrer gewohnten Umgebung und oft auch aus ihrer langjährigen Nachbarschaft herausgerissen worden waren und nun von Familie, Freund:innen und Bekannten getrennt lebten, erschwerte das Leben zusätzlich. Gleichzeitig waren die Bewohner:innen der Zwangswohnungen von der nichtjüdischen Nachbarschaft nach Jahren der sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Ausgrenzung weitgehend isoliert.

„Tatsächlich erhielten wir bald die Nachricht, dass meine Großmutter Adele ihre Wohnung [in der Neuen Grünstraße] verlassen musste, in der wir mittlerweile zu fünft lebten. Meine Mutter, mein Bruder und ich sollten in ein Judenhaus in Berlin-Kreuzberg umsiedeln, in die Skalitzer Straße Nummer 32, zu einer Frau Meißner. Cousine Anni und Großmutter Adele bekamen jeweils ein kleines Zimmer zugewiesen, in einer anderen Gegend, weit weg von uns. [...] In der Skalitzer Straße bewohnten wir zu fünft drei Zimmer.”
Zitat aus Margot Friedlander: „Versuche dein Leben zu machen“. Als Jüdin versteckt in Berlin, Berlin 2010, S. 80 f.

Den Alltag in den Zwangswohnungen prägte vor allem die Zwangsarbeit. Denn seit Ende 1938 mussten faktisch alle Juden:Jüdinnen ab 15 Jahre zwangsweise arbeiten, zunächst im kommunalen Bereich wie der Straßenreinigung oder Müllbeseitigung. Ab Frühsommer 1940 wurden die meisten Juden:Jüdinnen zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Dafür mussten sie zum Teil lange Arbeitswege in Kauf nehmen. Weil sie die öffentlichen Verkehrsmittel nur eingeschränkt nutzen durften, mussten sie die Wohnungen frühmorgens verlassen und kehrten erst spät abends zurück.

„Was sich am frühen Morgen in dieser Wohnung abspielte, war fürchterlich. Jeder wollte pünktlich seinen Arbeitsplatz erreichen. […] Wer es wagte, längere Zeit auf der Toilette zu verbringen, wurde durch ungestümes Klopfen an die Tür oder hysterisches Geschrei vertrieben. Der Versuch, eine Art Ordnung einzuführen, mißlang wegen unterschiedlicher Schichtarbeit. Die Parteien gerieten aneinander, wurden unversöhnlich. Kehrten sie müde und erschöpft von der schweren Arbeit, für die Juden eingeteilt wurden, zurück und fanden die Kochstellen besetzt, schrien sie die Glücklichen an, die die Küche eher erobert hatten als sie.“
Zitat aus Inge Deutschkron: Ich trug den gelben Stern, Köln 1983, S. 94 f.

Ab Oktober 1941 bestimmten die Deportationen und die Angst, verschleppt zu werden, das Zusammenleben in den Zwangswohnungen. Denn wenn ihre Zimmernachbar:innen abgeholt wurden, bekamen das die Bewohner:innen der Zwangswohnungen unmittelbar mit.

Der Detailblick auf die Zwangsräume macht allerdings auch Unterschiede in den Lebenssituationen deutlich. So waren die Zwangswohnungen unterschiedlich groß und auch bei der Ausstattung gab es eine große Bandbreite. Manchmal kannten sich die Bewohner:innen oder waren miteinander verwandt. Vor allem in der ersten Zeit konnte die Wohnungsberatungsstelle noch auf die familiären Konstellationen in den Wohnungen Einfluss nehmen.

Anders sah es bei Zwangseinweisungen in den späteren Jahren aus: Dann kannten sich Hauptmieter:innen und Untermieter:innen nicht. In manchen Wohnungen gab es durch Emigration und Flucht, Umzüge und schließlich Deportationen eine große Fluktuation, in anderen blieb die Bewohner:innenschaft über mehrere Jahre bis zu den letzten Deportationen Ende 1942/Anfang 1943 weitgehend konstant.

Hausgeschichten

Der Blick auf einzelne Häuser macht das berlinweite System der Zwangswohnungen deutlich und erinnert an die jüdischen Bewohner:innen. Für die meisten war die Zwangswohnung der letzte Wohnort vor ihrer Deportation und Ermordung.

Zu den Häusern

In anderen Städten

Zwangswohnungen für Juden:Jüdinnen existierten nicht nur in Berlin. In geringerem Ausmaß gab es sie auch in vielen anderen Städten, beispielsweise in Düsseldorf und anderen Orten des dortigen Regierungsbezirkes. Anders als in Berlin befanden sich in diesen Häusern meist keine Wohnungen, die von nichtjüdischen Personen bewohnt wurden.

Zum Forschungsprojekt Düsseldorf