Briesestr. 75
Briesestr. 75
Das Mietshaus in der um 1880 angelegten Prinz-Handjery-Straße gehörte Irma Löwenstein. Sie wurde von den Nazis als jüdisch kategorisiert. Sie selbst wohnte nicht in diesem Haus. Es ist ungewöhnlich, dass Jüdinnen:Juden zwangsweise in ein Haus eingewiesen wurden, in dem bis 1939 keine jüdischen Personen gemeldet waren. Warum dies in der Prinz-Handjery-Straße 49 der Fall war, ist nicht bekannt. Es könnte einen Zusammenhang mit mehreren nahe gelegenen Zwangsarbeitsstätten geben. In der Prinz-Handjery-Straße 3 befand sich ein Zwangsarbeiter:innenlager der Siemens AG. Weitere Lager für zivile Zwangsarbeiter:innen befanden sich in der Prinz-Handjery-Straße 14 und Nr. 78–80 sowie gleich um die Ecke in der Bergstraße (heute Karl-Marx-Straße).
Wohnungen
Hinterhaus Erdgeschoss, links
Wohnung Bleier/Berwin
Regina Bleier und ihr erwachsener Sohn Hans zogen im November 1940 in die Prinz-Handjery-Straße 49. Die Wohnung bestand aus einem Zimmer, Küche und Bad. Regina Bleier musste in den Pertrix-Werken in Berlin-Niederschöneweide Zwangsarbeit leisten. Hans Bleier wurde am 3. Februar 1941 im KZ Sachsenhausen eingesperrt. Nur zwei Wochen später, am 18. Februar 1941, wurde er dort ermordet. Seine Mutter Regina Bleier füllte am 18. März 1942 noch ihre Vermögenserklärung aus, bevor sie sich am 1. April 1942, dem Tag ihrer geplanten Deportation, das Leben nahm.
Vier Monate später, am 1. August 1942, musste das Ehepaar Martin und Lina Berwin in die vormalige Wohnung der Bleiers ziehen. Sie hatten vorher in der Urbanstraße in Kreuzberg gelebt. Die beiden lebten kaum ein Jahr hier, bevor sie am 17. März 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurden. Von dort kamen sie in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie ermordet wurden.
Vor der Deportation mussten alle Juden:Jüdinnen für das Hauptwirtschaftsamt des Oberbürgermeisters von Berlin eine Vermögenserklärung ausfüllen. Darin mussten sie ihren Besitz detailliert auflisten.
Seitenflügel 1. Obergeschoss
Wohnung Freundlich
Kurt und Charlotte Freundlich waren mit ihren beiden Kindern Wolfgang und Denny ab 1941 im Berliner Adressbuch unter der Prinz-Handjery-Straße zu finden. Die vierköpfige Familie lebte dort in einer 1,5-Zimmer-Wohnung mit Küche. Vorher wohnten sie in der nahe gelegenen Nogatstraße 47. Kurt Freundlich war gelernter Autoschlosser und arbeitete in der Firma A.M. Barth in Berlin-Hohenschönhausen. Charlotte Freundlich war nicht berufstätig. Wahrscheinlich blieb sie mit den zwei kleinen Kindern zu Hause. Am 26. Oktober 1942 wurde die Familie ins Ghetto Riga deportiert. Denny war zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als ein Jahr alt, sein Bruder Wolfgang vier Jahre alt. Sie wurden, wie alle knapp 800 mit ihnen Deportierten, direkt nach der Ankunft am 29. Oktober 1942 erschossen.
Vorderhaus, 2. Obergeschoss
Wohnung Popper/Fürst
Das Ehepaar Berta und Gerhard Popper zog am 1. Juli 1940 in die Wohnung. Vorher hatten sie nicht weit entfernt in der Emser Straße 4 gewohnt. Sie bewohnten nun eine 1-Zimmer-Wohnung mit Küche „ohne Komfort“, wie die spätere Mieterin Vera Fürst in ihrer Vermögenserklärung, die sie vor ihrer Deportation abgeben musste, schrieb. Berta Popper leistete Zwangsarbeit bei der Firma Pertrix. Diese gehörte zur Quandt-Gruppe, die in Berlin-Niederschöneweide Batterien und Taschenlampen für die deutsche Armee herstellte. Ihr Mann Gerhard leistete ebenfalls Zwangsarbeit in einer Berliner Färberei und Druckerei. Beide wurden am 27. November 1941 ins Ghetto Riga deportiert, wo sie nach ihrer Ankunft ermordet wurden.
Zwei Monate nach der Deportation von Berta und Gerhard Popper ließ die Bezirksverwaltung Neukölln die Gegenstände in der Wohnung besichtigen und schätzen. Offiziell sollten die zuvor von Juden:Jüdinnen bewohnten Wohnungen danach zur Unterbringung Bombengeschädigter genutzt werden. Der Generalbauinspektor (GBI) Albert Speer entschied darüber, was genau mit den Wohnungen passierte. In dem Formular der Bezirksverwaltung wird die Wohnung als „Judenwohnung Nr. 65“ bezeichnet.
Die Bezirksverwaltung Neukölln nennt in dem Formular die jüdische Hauseigentümerin Irma Löwenstein. Die Schlüssel für die Wohnung Popper wurden bei einer Nachbarin namens Sofi Stachowiak abgegeben.
Am 1. März 1942 zogen jedoch nicht Bombengeschädigte, sondern zwei neue jüdische Mieter:innen ein – das Ehepaar Fritz und Vera Fürst. Wenige Monate nach dem Einzug verstarb Fritz Fürst in der Wohnung. Seine Todesursache ist unbekannt. Vera Fürst musste noch ein ganzes Jahr bei Siemens & Halske Zwangsarbeit leisten. Am 4. März 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Unbekannte Wohnungslage
Richard und Margarete Lubinski
Richard und Margarete Lubinski zogen nach 1939 in die Prinz-Handjery-Straße 49 und wurden von dort deportiert. Ob sie allein in einer Wohnung wohnten oder es auch Untermieter:innen gab, ist nicht bekannt.
Nachbarschaft
Neukölln war überwiegend ein Arbeiter:innen-Bezirk. Die Menschen lebten hier meist in einfachen Verhältnissen und in eher kleinen Wohnungen. Der Bezirk hatte nie eine große jüdische Bewohner:innenschaft. 1933 lebten 2.941 Juden:Jüdinnen in Neukölln. Das entsprach knapp einem Prozent der Gesamtbevölkerung des Bezirks. Bis 1939 reduzierte sich diese Zahl auf 1.129 jüdische Menschen.
Autorin
Johanna A. Kühne
Lina Berwin, geb. Wollsteiner
26.8.1888 in Görlitz
Deportation am 17.3.1943 ins Ghetto Theresienstadt, weiter am 9.10.1944 nach Auschwitz, ermordet
Martin Berwin
6.4.1886 in Bomst
Deportation am 17.3.1943 ins Ghetto Theresienstadt, weiter am 9.10.1944 nach Auschwitz, ermordet
Hans Martin Bleier
25.12.1920 in Berlin
Inhaftierung im KZ Sachsenhausen am 3.2.1941, dort ermordet am 18.2.1941
Regina Bleier, geb. Zaduk
16.6.1886 in Berlin
Suizid am 1.4.1942
Charlotte Freundlich, geb. Schimmek
3.1.1912 in Krotoschin (Krotoszyn)
Deportation am 26.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 29.10.1942
Denny Freundlich
18.6.1941 in Berlin
Deportation am 26.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 29.10.1942
Kurt Freundlich
15.2.1904 in Berlin
Deportation am 26.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 29.10.1942
Wolfgang Freundlich
12.5.1938 in Berlin
Deportation am 26.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 29.10.1942
Fritz Fürst
10.2.1896 in Berlin
Verstorben am 2.7.1942 in Berlin
Vera Röschen Fürst, geb. Baude
1.9.1917 in Berlin
Deporation am 4.3.1943 nach Auschwitz, ermordet
Margarete Lubinski, geb. Kiewe
25.10.1887 in Hohensalza (Inowrocław)
Deportation am 2.3.1943 nach Auschwitz, ermordet
Richard Lubinski
19.9.1881 in Krotoschin (Krotoszyn)
Deportation am 2.3.1943 nach Auschwitz, ermordet
Berta Popper, geb. Bernstein
25.1.1890 in Hamburg
Deportation am 27.11.1941 ins Ghetto Riga, ermordet am 30.11.1941
Gerhard Heinz Popper
25.1.1911 in Hannover
Deportation am 27.11.1941 ins Ghetto Riga, ermordet am 30.11.1941