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Briesestr. 75

Briesestr. 75

Ehemals: Prinz-Handjery-Straße 49, Neukölln, heute ein Neubau
Prinz-Handjery-Straße mit Blick in Richtung Bergstraße (heute Karl-Marx-Straße), um 1915, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Sammlung Ralf Schmiedecke, Berlin
Das Mietshaus im Neuköllner Rollberg-Viertel hatte etwa 25 Wohnungen. Vor 1939 lebten keine jüdischen Bewohner:innen im Haus. Eine unbekannte Zahl der Wohnungen wurde zwischen 1939 und 1945 als Zwangswohnraum genutzt. Mindestens 15 jüdische Menschen wurden nach 1939 in das Haus eingewiesen. Von ihnen wurden mindestens zwölf von dieser Adresse deportiert und ermordet.

Das Mietshaus in der um 1880 angelegten Prinz-Handjery-Straße gehörte Irma Löwenstein. Sie wurde von den Nazis als jüdisch kategorisiert. Sie selbst wohnte nicht in diesem Haus. Es ist ungewöhnlich, dass Jüdinnen:Juden zwangsweise in ein Haus eingewiesen wurden, in dem bis 1939 keine jüdischen Personen gemeldet waren. Warum dies in der Prinz-Handjery-Straße 49 der Fall war, ist nicht bekannt. Es könnte einen Zusammenhang mit mehreren nahe gelegenen Zwangsarbeitsstätten geben. In der Prinz-Handjery-Straße 3 befand sich ein Zwangsarbeiter:innenlager der Siemens AG. Weitere Lager für zivile Zwangsarbeiter:innen befanden sich in der Prinz-Handjery-Straße 14 und Nr. 78–80 sowie gleich um die Ecke in der Bergstraße (heute Karl-Marx-Straße).

Wohnungen

Hinterhaus Erdgeschoss, links

EG
Wohnung Bleier/Berwin

Regina Bleier und ihr erwachsener Sohn Hans zogen im November 1940 in die Prinz-Handjery-Straße 49. Die Wohnung bestand aus einem Zimmer, Küche und Bad. Regina Bleier musste in den Pertrix-Werken in Berlin-Niederschöneweide Zwangsarbeit leisten. Hans Bleier wurde am 3. Februar 1941 im KZ Sachsenhausen eingesperrt. Nur zwei Wochen später, am 18. Februar 1941, wurde er dort ermordet. Seine Mutter Regina Bleier füllte am 18. März 1942 noch ihre Vermögenserklärung aus, bevor sie sich am 1. April 1942, dem Tag ihrer geplanten Deportation, das Leben nahm.

Vier Monate später, am 1. August 1942, musste das Ehepaar Martin und Lina Berwin in die vormalige Wohnung der Bleiers ziehen. Sie hatten vorher in der Urbanstraße in Kreuzberg gelebt. Die beiden lebten kaum ein Jahr hier, bevor sie am 17. März 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurden. Von dort kamen sie in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie ermordet wurden.

Vor der Deportation mussten alle Juden:Jüdinnen für das Hauptwirtschaftsamt des Oberbürgermeisters von Berlin eine Vermögenserklärung ausfüllen. Darin mussten sie ihren Besitz detailliert auflisten.

Seitenflügel 1. Obergeschoss

1.OG
Wohnung Freundlich

Kurt und Charlotte Freundlich waren mit ihren beiden Kindern Wolfgang und Denny ab 1941 im Berliner Adressbuch unter der Prinz-Handjery-Straße zu finden. Die vierköpfige Familie lebte dort in einer 1,5-Zimmer-Wohnung mit Küche. Vorher wohnten sie in der nahe gelegenen Nogatstraße 47. Kurt Freundlich war gelernter Autoschlosser und arbeitete in der Firma A.M. Barth in Berlin-Hohenschönhausen. Charlotte Freundlich war nicht berufstätig. Wahrscheinlich blieb sie mit den zwei kleinen Kindern zu Hause. Am 26. Oktober 1942 wurde die Familie ins Ghetto Riga deportiert. Denny war zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als ein Jahr alt, sein Bruder Wolfgang vier Jahre alt. Sie wurden, wie alle knapp 800 mit ihnen Deportierten, direkt nach der Ankunft am 29. Oktober 1942 erschossen.

Vorderhaus, 2. Obergeschoss

2.OG
Wohnung Popper/Fürst

Das Ehepaar Berta und Gerhard Popper zog am 1. Juli 1940 in die Wohnung. Vorher hatten sie nicht weit entfernt in der Emser Straße 4 gewohnt. Sie bewohnten nun eine 1-Zimmer-Wohnung mit Küche „ohne Komfort“, wie die spätere Mieterin Vera Fürst in ihrer Vermögenserklärung, die sie vor ihrer Deportation abgeben musste, schrieb. Berta Popper leistete Zwangsarbeit bei der Firma Pertrix. Diese gehörte zur Quandt-Gruppe, die in Berlin-Niederschöneweide Batterien und Taschenlampen für die deutsche Armee herstellte. Ihr Mann Gerhard leistete ebenfalls Zwangsarbeit in einer Berliner Färberei und Druckerei. Beide wurden am 27. November 1941 ins Ghetto Riga deportiert, wo sie nach ihrer Ankunft ermordet wurden.

Vermögenserklärung von Vera Fürst, 3. März 1943. Quelle: BLHA Rep. 36A (II) Nr. 10751

Zwei Monate nach der Deportation von Berta und Gerhard Popper ließ die Bezirksverwaltung Neukölln die Gegenstände in der Wohnung besichtigen und schätzen. Offiziell sollten die zuvor von Juden:Jüdinnen bewohnten Wohnungen danach zur Unterbringung Bombengeschädigter genutzt werden. Der Generalbauinspektor (GBI) Albert Speer entschied darüber, was genau mit den Wohnungen passierte. In dem Formular der Bezirksverwaltung wird die Wohnung als „Judenwohnung Nr. 65“ bezeichnet.

Die Bezirksverwaltung Neukölln nennt in dem Formular die jüdische Hauseigentümerin Irma Löwenstein. Die Schlüssel für die Wohnung Popper wurden bei einer Nachbarin namens Sofi Stachowiak abgegeben.

Am 1. März 1942 zogen jedoch nicht Bombengeschädigte, sondern zwei neue jüdische Mieter:innen ein – das Ehepaar Fritz und Vera Fürst. Wenige Monate nach dem Einzug verstarb Fritz Fürst in der Wohnung. Seine Todesursache ist unbekannt. Vera Fürst musste noch ein ganzes Jahr bei Siemens & Halske Zwangsarbeit leisten. Am 4. März 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Unbekannte Wohnungslage

Richard und Margarete Lubinski

Richard und Margarete Lubinski zogen nach 1939 in die Prinz-Handjery-Straße 49 und wurden von dort deportiert. Ob sie allein in einer Wohnung wohnten oder es auch Untermieter:innen gab, ist nicht bekannt.

Blick in die Hermannstraße, von der die Prinz-Handjery-Straße abzweigte, 19. August 1934, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (03) Nr. 0110472
Herrfurthstraße mit Blick auf die Genezarethkirche, um 1935, Fotograf:in unbekannt. Das Foto wurde aus der Zietenstraße aufgenommen, ca. 100 Meter von der Prinz-Handjery-Straße 49 entfernt. Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (01) Nr. 0325505

Nachbarschaft

Neukölln war überwiegend ein Arbeiter:innen-Bezirk. Die Menschen lebten hier meist in einfachen Verhältnissen und in eher kleinen Wohnungen. Der Bezirk hatte nie eine große jüdische Bewohner:innenschaft. 1933 lebten 2.941 Juden:Jüdinnen in Neukölln. Das entsprach knapp einem Prozent der Gesamtbevölkerung des Bezirks. Bis 1939 reduzierte sich diese Zahl auf 1.129 jüdische Menschen.

Autorin

Johanna A. Kühne

In Gedenken an die jüdischen Bewohner:innen der Prinz-Handjery-Straße 49

Lina Berwin, geb. Wollsteiner

26.8.1888 in Görlitz
Deportation am 17.3.1943 ins Ghetto Theresienstadt, weiter am 9.10.1944 nach Auschwitz, ermordet

Martin Berwin

6.4.1886 in Bomst
Deportation am 17.3.1943 ins Ghetto Theresienstadt, weiter am 9.10.1944 nach Auschwitz, ermordet

Hans Martin Bleier

25.12.1920 in Berlin
Inhaftierung im KZ Sachsenhausen am 3.2.1941, dort ermordet am 18.2.1941

Regina Bleier, geb. Zaduk

16.6.1886 in Berlin
Suizid am 1.4.1942

Charlotte Freundlich, geb. Schimmek

3.1.1912 in Krotoschin (Krotoszyn)
Deportation am 26.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 29.10.1942

Denny Freundlich

18.6.1941 in Berlin
Deportation am 26.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 29.10.1942

Kurt Freundlich

15.2.1904 in Berlin
Deportation am 26.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 29.10.1942

Wolfgang Freundlich

12.5.1938 in Berlin
Deportation am 26.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 29.10.1942

Fritz Fürst

10.2.1896 in Berlin
Verstorben am 2.7.1942 in Berlin

Vera Röschen Fürst, geb. Baude

1.9.1917 in Berlin
Deporation am 4.3.1943 nach Auschwitz, ermordet

Margarete Lubinski, geb. Kiewe

25.10.1887 in Hohensalza (Inowrocław)
Deportation am 2.3.1943 nach Auschwitz, ermordet

Richard Lubinski

19.9.1881 in Krotoschin (Krotoszyn)
Deportation am 2.3.1943 nach Auschwitz, ermordet

Berta Popper, geb. Bernstein

25.1.1890 in Hamburg
Deportation am 27.11.1941 ins Ghetto Riga, ermordet am 30.11.1941

Gerhard Heinz Popper

25.1.1911 in Hannover
Deportation am 27.11.1941 ins Ghetto Riga, ermordet am 30.11.1941

Einweisung von Untermieter:innen

In diesem Haus gab es vermutlich keine Untermieter:innen. Aber seit dem „Gesetz zum Mietverhältnis mit Juden“ von 1939 durften lokale Behörden einfach jüdische Untermieter:innen in eine Wohnung einweisen. Mehr zum Gesetz und seinen Folgen gibt es hier:

Zum Kontext