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Reinickendorfer Str. 77

Reinickendorfer Str. 77

Mitte, Heute ein Neubau
Skizze der Reinickendorfer Straße 77 von 1875. Quelle: Landesarchiv Berlin, B Rep. 203 Nr. 9676
Das typische Gründerzeithaus in der Reinickendorfer Straße 77 befand sich im Wedding, einem dicht besiedelten Bezirk nördlich des Stadtzentrums, in dem viele Arbeiter:innen lebten. Im Haus gab es ca. 18 Wohnungen, von denen vier als Zwangsunterkünfte für 15 jüdische Bewohner:innen genutzt wurden. Die meisten von ihnen wurden ermordet.

Das Haus wurde 1875/76 erbaut und lag wenige Gehminuten vom Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße (bis 1934 Exerzierstraße) sowie dem gegenüberliegenden Jüdischen Altersheim entfernt. Das Haus war ursprünglich im Besitz der Firma Neue Häuser Ausbau. Um 1934 übernahm es die Immobiliengesellschaft CASA. Im Erdgeschoss des Hauses betrieb Adolf Tauber seit etwa Januar 1938 ein Schuhgeschäft. Er starb am 16. März 1939 in seiner Wohnung.

Skizze der Beschilderung der Schuhmacherei, 11. Januar 1938. Adolf Tauber wurde vor seinem Tod am 16. März 1939 als jüdisch verfolgt. Quelle: Landesarchiv Berlin, B Rep. 203 Nr. 9678

Wohnungen

Vorderhaus, 1. Obergeschoss

1.OG
Wohnung Barkowsky/Petzall

Julius und Helene Barkowsky, geb. Heymann, zogen mit ihrem Sohn Adolf am 15. Februar 1941 in eine 3-Zimmer-Wohnung im ersten Stock. Julius Barkowsky war bereits seit zehn Jahren in der Reinickendorfer Straße 48 gemeldet und führte dort ein Bekleidungsgeschäft. Während des antisemitischen Novemberpogroms 1938 wurden die Schaufenster seines Ladens eingeschlagen. Bald darauf war er gezwungen, das Unternehmen zu liquidieren. Die Barkowskys lebten nur noch wenige Monate in ihrer neuen Wohnung. Am 17. November 1941 wurden sie in das Ghetto Kowno deportiert und dort direkt nach ihrer Ankunft ermordet.

Einen Monat nach der Deportation der Familie Barkowsky wies der Generalbauinspektor (GBI) die Wohnung Dr. Louis Petzall und seiner Familie zu. Louis Petzall hatte eine Zahnarztpraxis, die nur wenige Gehminuten entfernt in der Badstraße 44 lag. Seine Frau Golia Petzall, geb. Goldberg, arbeitete als Assistentin in der Praxis. Das Ehepaar hatte eine kleine Tochter, Charlotte, die mit ihnen in zwei Zimmern lebte.

„Auf Veranlassung des Herrn Generalbauinspektors ist die jüdische Wohnung J.I. Barkowski, Reinickendorfer Str. 77, gegen Ende November 1941 geräumt worden. […] Diese Wohnung ist ab 15. Dezember 1941 auf Veranlassung des Herrn Generalbauinspektors an Herrn Dr. Louis Israel Petzall neu vermietet worden.“

Wahrscheinlich lebte auch Louis Petzalls Mutter Maria Petzall, geb. London, mit in der Wohnung. Außerdem vermietete die Familie Petzall für 20 Reichsmark im Monat ein Zimmer an Emil und Meta Landsberg, geb. Oppenheim, und ihren jugendlichen Sohn Günter unter. Am 3. Oktober 1942 wurde die 68-jährige Maria Petzall in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Nachdem sie anderthalb Jahre lang unter den katastrophalen Bedingungen des Ghettos gelebt hatte, wurde sie am 18. Mai 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Seit Mai 1933 durften jüdische Zahnärzt:innen nur noch jüdische Patient:innen behandeln. Jüdische Zahnarztpraxen wurden durch Listen, die Verwendung von Zwangsnamen – Israel für Männer und Sara für Frauen – und den sogenannten „Judenstern“ kenntlich gemacht.

Zwei Wochen nach der Deportation von Maria Petzall wurden Louis, Golia und die neunjährige Charlotte Petzall nach Riga deportiert. Sie wurden bei ihrer Ankunft ermordet. Die Familie Landsberg konnte noch einige Monate an dieser Adresse bleiben. Alle drei Familienmitglieder wurden am 3. März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nachdem sie von der der Deportation der Petzalls erfuhr, versuchte eine Bekannte von Hausbewohner:innen sich an der zurückgelassenen Einrichtung der Familie Petzall zu bereichern. Die Familie war zu diesem Zeitpunkt bereits ermordet worden.

„In der Wohnung der obenbezeichneten Juden befinden sich einige Sachen, die ich dafür [Umzug in eine größere Wohnung] gut gebrauchen könnte. Vor allem lege ich Wert auf die Betten einschl. Kinderbett.“

Wohnung Bragenheim

Oskar Bragenheim, seine Frau Lotte, geb. Abraham, und ihr elfjähriger Sohn Klaus zogen am 4. Oktober 1940 in die kleine 2-Zimmer-Wohnung im ersten Obergeschoss. Beide Eltern mussten Zwangsarbeit leisten: Lotte Bragenheim bei den Siemens-Schuckert-Werken in Spandau, Oskar Bragenheim bei der Deutschen Lufthansa. Mit ihrem Sohn und der benachbarten Familie Petzall wurden sie nach Riga deportiert und bei ihrer Ankunft am 22. Oktober 1942 ermordet.

Seitengebäude, Erdgeschoss

EG
Wohnung Rosenfeld

Im Erdgeschoss des Seitengebäudes wohnte Olga Rosenfeld. Sie lebte in einem Zimmer mit Küche für 21,38 Reichsmark im Monat. Die Miete bezahlte vermutlich Artur Rosenfeld, bei dem sie für einen Lohn von 50 Reichsmark als Hausdame arbeitete. Ob sie mit Artur Rosenfeld verwandt war, ist nicht bekannt. Am 7. Juli 1942 musste Olga Rosenfeld ihre Vermögenserklärung ausfüllen. Aus dieser geht hervor, dass sie in Kürze deportiert werden sollte. Neun Tage später wurde Olga Rosenfeld in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Sie hatte sich vergiftet.

Seitengebäude, 2. Obergeschoss

2.OG
Wohnung Dietmann

Rosa Dietmann, geb. Neumann, bezog ihre kleine Wohnung im zweiten Obergeschoss des Seitengebäudes im Laufe des Jahres 1940. Sie musste für den I.G. Farben-Konzern in Lichtenberg Zwangsarbeit leisten. Am 2. März 1943 wurde sie im Rahmen der sogenannten „Fabrik-Aktion“ nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Nachbarhaus Reinickendorfer Straße 78, um 1909, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Sammlung Ralf Schmiedecke, Berlin
Das Kino Roland-Lichtspiele gegenüber der Reinickendorfer Straße 77, um 1934, Fotograf:in: unbekannt. Quelle: Sammlung Ralf Schmiedecke, Berlin
Kriegsruine des Nachbarhauses Reinickendorfer Straße 78, Oktober 1945, Foto: Otto Martens. Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (01) Nr. 0020543

Nachbarschaft

Bei der Reichstagswahl im März 1933 bekam die KPD im Wedding trotz ihres Verbots fast 40 Prozent der Stimmen. Die Unterstützung der NSDAP war mit 26 Prozent deutlich geringer. Der Bezirk war industriell geprägt mit großen Unternehmen der Elektroindustrie (wie AEG), des Metall- und Maschinenbaus (Schwartzkopff) und der Chemieindustrie (Schering). Die industrielle Expansion führte zu einem Anstieg der Einwohner:innenzahl. 1930 lebten fast 400.000 Menschen im Wedding. Der Wohnungsbau und das Sozialsystem wuchsen jedoch nicht in gleichem Maße, was zu Wohnungsmangel und weit verbreiteter Armut führte.

Das Haus in der Reinickendorfer Straße 77 lag in der Nähe des Jüdischen Krankenhauses in der Iranischen Straße. Das Krankenhaus war eine der wenigen verbleibenden Einrichtungen, in der jüdische Mediziner:innen arbeiten konnten und die Juden:Jüdinnen medizinisch noch versorgte. Später wandelte die Geheime Statspolizei (Gestapo) das Krankenhaus schrittweise in ein Sammellager um, aus dem fast 1.000 Jüdinnen:Juden deportiert wurden.

Autorin

Bethan Griffiths

In Gedenken an die jüdischen Bewohner:innen der Reinickendorfer Straße 77

Adolf Barkowsky

20.12.1923 in Berlin
Deportation am 17.11.1941 ins Ghetto Kowno, ermordet am 25.11.1941

Helene Barkowsky, geb. Heymann

18.2.1896 in Berlin
Deportation am 17.11.1941 ins Ghetto Kowno, ermordet am 25.11.1941

Julius Barkowsky

24.12.1887 in Friedland (Prawdinsk)
Deportation am 17.11.1941 ins Ghetto Kowno, ermordet am 25.11.1941

Lotte Bragenheim, geb. Abraham

29.11.1897 in Schweiding
Deportation am 19.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 22.10.1942

Klaus Bragenheim

29.4.1929 in Berlin
Deportation am 19.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 22.10.1942

Oskar Bragenheim

7.3.1891 in Güstrow
Deportation am 19.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 22.10.1942

Rosa Dietmann, geb. Neumann (gesch. Warkow)

12.7.1891 in Gerickensberg
Deportation am 2.3.1943 nach Auschwitz, ermordet

Emil Landsberg

25.2.1899 in Berlin
Deportation am 3.3.1943 nach Auschwitz, ermordet

Günter Bernhard Landsberg

7.7.1925 in Berlin
Deportation am 3.3.1943 nach Auschwitz, ermordet

Meta Landsberg, geb. Oppenheim

21.10.1903 in Berlin
Deportation am 3.3.1943 nach Auschwitz, ermordet

Charlotte Petzall

26.6.1933 in Berlin
Deportation am 19.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 22.10.1942

Golia Petzall, geb. Goldberg

2.12.1901 in Grodno
Deportation am 19.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 22.10.1942

Louis Petzall

25.12.1898 in Kreuzburg (Krustpils)
Deportation am 19.10.1942 ins Ghetto Riga, ermordet am 22.10.1942

Maria Petzall, geb. London

2.6.1874 in Lautenburg (Lidzbark)
Deportation am 3.10.1942 in Ghetto Theresienstadt, weiter am 18.5.1944 nach Auschwitz, ermordet

Olga Rosenfeld

24.7.1873 in Paprotzan
Suizid am 16.7.1942

Adolf Tauber

10.3.1894 in Wohyń
Verstorben am 16.3.1939

Kennzeichnung von „Judenwohnungen“

Der Zahnarzt Louis Petzall musste beim Stempel seiner Praxis den sogenannten „Judenstern“ nutzen. Ab April 1942 waren jüdische Mieter:innen gezwungen, ihre Wohnungen mit einem Stern zu kennzeichnen.

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