Charlottenburger Str. 1
Charlottenburger Str. 1
Das Haus wurde 1915 erbaut und noch 1933 von dem jüdischen Konfektionär für gehobene Knabenbekleidung Gustav Nathan von der Stadt Berlin gekauft. Er verließ mit seiner Frau Cläre schon Anfang 1935 Deutschland. Seinen Betrieb übergab er einem seiner Brüder und seinem ehemaligen Prokuristen bis zur Geschäftsliquidation Anfang 1937. Die Verwaltung seiner beiden Häuser, darunter die Charlottenburger Straße 1, überließ er Paula Birnstiel, seiner langjährigen nichtjüdischen Mitarbeiterin. Anfang 1938 flüchtete sie selbst vor den Verhören der Gestapo, zuletzt der Drohung mit KZ-Einweisung, ins Ausland. Mit dem Haus wollte Nathan, wie er Anfang der 1950er Jahre in einer Erklärung für seinen Entschädigungsantrag schrieb, ursprünglich seinen Lebensabend absichern. Im Erdgeschoss des Hauses gab es eine Nebenstelle der Reichsbank und bis etwa 1940/41 die Praxis des vermutlich nichtjüdischen Hautarztes Dr. Birnbaum.
Wohnungen
Vorderhaus, Erdgeschoss
Wohnung Zutrauen
Im Erdgeschoss wohnte ab 1934/35 die Witwe Emilie Zutrauen mit ihren beiden erwachsenen Söhnen. Der ältere Sohn Rudolf war Jurist. Der jüngere Sohn Hans hatte Anfang 1934 sein medizinisches Examen mit guten Noten in Berlin abgeschlossen. Als Jude bekam Hans Zutrauen jedoch keine Zulassung in seinem Beruf. Er konnte nur unbezahlt im Jüdischen Krankenhaus Berlin arbeiten. Seiner Frau Alice Jeanette, die ausgebildete Kammersängerin war, entzog die Reichskulturkammer 1935 die Zulassung zu Auftritten. Sie durfte wie auch andere jüdische Künstler:innen nur noch bei Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes auftreten. Da das Ehepaar unter diesen Umständen in Deutschland keine Zukunft mehr für sich sah, wanderte es Anfang 1937 in die USA aus. Emilie und Rudolf Zutrauen folgten ihnen im Frühjahr 1941. Rudolf Zutrauen wurde in den USA Soldat und starb im Februar 1945 im Kampf gegen die japanische Armee auf den Philippinen.
Wohnung Weiß
Ebenfalls im Erdgeschoss lebten ab 1936/37 der Steinsetzmeister Salomon Weiß und seine Frau Frieda Weiß. Zwei Räume der 4-Zimmer-Wohnung mussten Salomon und Frieda Weiß von 1938 bis zu ihrer Deportation Untermieter:innen zur Verfügung stellen. Wer diese Untermieter:innen waren, lässt sich heute nicht mehr herausfinden. Seinen Betrieb „Werkstätten für Grabmalskunst“ in der damaligen Lothringenstraße 8 (heute Bizetstraße) hatte Salomon Weiß nach bescheidenen Anfängen zum wichtigsten Grabsteinlieferanten der Jüdischen Gemeinde gemacht. Seit 1922 hatte das Ehepaar mit seinen zwei Kindern in einer Villa mit großem Garten in der Parkstraße 94 gelebt. Das änderte sich mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. 1935 mussten Salomon und Frieda Weiß die Villa verkaufen. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde Salomon Weiß gezwungen, den Betrieb einem Nichtjuden zu übergeben. Daraufhin löste er seine Lebensversicherungen auf und versuchte alles, um Deutschland zu verlassen. Edgar, der Sohn des Ehepaars, war bereits 1937 nach Palästina ausgewandert, die Tochter Lilli und ihr Mann, der Kaufhausbesitzer Walter Brünn, 1939 bzw. 1940 nach Schweden. Vergebens bemühte sich Walter Brünn, seinen über 70-jährigen verwitweten und suizidgefährdeten Vater nach Schweden zu holen. Auch Lillis Eltern konnten nicht mehr emigrieren. Im Frühjahr 1942 wurden Salomon und Frieda Weiß in das Ghetto Piaski deportiert. Es gelang ihnen, einen Brief an ein befreundetes Ehepaar in Berlin zu schicken. Darin berichten sie von ihrem Abtransport und den belastenden Lebensumständen im Ghetto.
„Meine Lieben, wir mussten so schnell fort, dass wir nicht mehr ins Krankenhaus gehen konnten um uns zu verabschieden. Hoffe, dass der Papa [gemeint ist Adolf Brünn, der Vater von Walter] zu Hause und mit Erfolg behandelt worden [ist]. Die letzte Karte von Papa kam noch aus dem Krankenhaus. Wenn wir nicht die Hoffnung hätten, dass wir uns noch einmal wiedersehen, wäre dieses Dasein nicht zu ertragen.“Zitiert aus: LABO Berlin, BEG-Akte Salomon u. Frieda Weiss, Lilli Brünn, geb. Weiss, Reg.-Nr. 77 963, Brief von Frieda und Salomon Weiß aus dem Ghetto Piaski
Vorderhaus, 1. Obergeschoss
Wohnung Jakubowski
Der Kaufmann und Drogist Kurt Jakubowski zog mit seiner Frau Johanna und dem gemeinsamen Sohn Klaus im Oktober 1941 in die erste Etage im Vorderhaus. In die 4-Zimmer-Wohnung mit Mädchenkammer mussten sie weitere Untermieter:innen aufnehmen. Dazu kam auch Kurt Jakubowskis körperlich beeinträchtigte Mutter Bertha. Sie hatte zuvor noch selbstständig in der Raabestraße 11 gewohnt. Die Familie Jakubowski hatte ihre Wohnung in der Grellstraße 60 auf Druck der Wohnungsbaugesellschaft „Eintracht“ aufgeben müssen. Dann lebten sie ein Jahr zur Untermiete bei der Familie des ehemaligen Bankangestellten Willy Riese und seiner Frau Käthe in der Winsstraße 40 in Prenzlauer Berg. Als das Ehepaar Anfang November 1941 deportiert wurde, zogen die Jakubowskis in die Charlottenburger Straße 1.
Die Familie bemühte sich verzweifelt, in die USA auszuwandern. Ein erster Versuch scheiterte, da Johannas Verwandte in den USA nicht genug Geld für die Bürgschaften aufbringen konnten. Kurt Jakubowski hatte nebenberuflich viele Jahre als Kantor der Liberalen Synagoge Norden in der Schönhauser Allee 162 im Auerbach’schen Waisenhaus gearbeitet. Im Frühjahr 1939 erfuhr er, dass es einem früheren Kollegen, Rabbiner Erwin Zimet, gelungen war, in die USA auszuwandern. Hier arbeitete er nun als Hilfsrabbiner der Park Avenue Synagoge in New York. In der Hoffnung auf eine Kantoren-Stelle in den USA wandte sich Kurt sofort an Zimet. Aber auch der zweite Versuch misslang. Getroffen von Zimets Absage antwortete Kurt: „Wir haben nur noch den einzigen Wunsch, uns drüben in USA alle gesund wieder zu sehen.“ Seine Frau könnte auch als Haushalts- oder Sprechstundenhilfe arbeiten. Er selbst würde auch als US-Soldat in den Krieg ziehen, wenn er nur Frau und Sohn dort in Sicherheit wüsste. Seit 1941 arbeitete Kurt als Wohnungsermittler für die Jüdische Gemeinde Berlin. Zusammen mit Rabbiner Martin Riesenburger leitete er auch die Beerdigungen auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee. Johanna Jakubowski, gelernte Kontoristin, war Zwangsarbeiterin bei Ehrich & Graetz in der Rüstungsproduktion. Der 13-jährige Klaus wurde Friedhofshelfer. Kurt, Johanna und Klaus Jakubowski wurden Ende November 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Schon knapp zwei Monate zuvor war Klaus’ Großmutter Bertha ins Ghetto Theresienstadt deportiert worden, wo sie im März 1944 ums Leben kam.
Die in der Wohnung lebenden Untermieter:innen blieben zunächst dort. Zu ihnen gehörte der Kaufmann Hans Rosenthal, der ebenfalls bei der Firma Ehrich & Graetz Zwangsarbeit leisten musste. Ihn verband mit den Jakubowskis ein freundschaftlicher Kontakt. Ihre Deportation und der Tod seines älteren Bruders im Dezember 1942 müssen ihn vor seiner eigenen Deportation im Frühjahr 1943 sehr belastet haben.
„Es ist gewiss an der Zeit, dass ich diese Zeilen niederschreibe. Ich habe nicht mehr die geringste Hoffnung, meinem Schicksal zu entgehen. […] Die gemeinsam mit Jakubowskis und Dir verbrachten Stunden werden mir unvergesslich bleiben.“
Zwei Zimmer der Wohnung bewohnte die Familie Keil mit vier Personen. Johanna Keil war bei ihrer Heirat Straßenhändlerin gewesen. Ihr Mann Reinhard, ursprünglich Markthändler, arbeitete seit 1936 als Friedhofsgärtner der Jüdischen Gemeinde und später als Abholer. Die beiden Söhne des Paares waren beim Einzug im Sommer 1941 elf und 15 Jahre alt. Der jüngere, Manfred, hatte zunächst die V. Jüdische Volksschule in Pankow, dann eine Sprachheilschule besucht. Schließlich war er bis zur 6. Klasse in die VII. Volksschule der Jüdischen Gemeinde für „schwer erziehbare und minderbegabte Kinder“ gegangen. Wie die meisten jüdischen Schüler:innen ist der ältere Bruder Horst 1936 vermutlich wegen antisemitischer Anfeindungen von einer öffentlichen Schule auf die Jüdische Volksschule in der Kaiserstraße 29/30 gewechselt. Nach der achten Klasse begann er eine Tischlerlehre bei der Gemeinde. Dann wurde er unter Androhung der „Todesstrafe“, wie er 1966 in einer eidesstattlichen Erklärung für den Entschädigungsantrag schrieb, gezwungen, die Lehrstelle zu verlassen und sich beim Arbeitsamt zu melden. Das Arbeitsamt vermittelte Horst an die „Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken“ (DWM) in Reinickendorf. Die Arbeitsbedingungen dort waren wie bei Erich & Graetz belastend und erniedrigend. Eine Zeit lang soll Horst Keil schließlich in der Küche der Jüdischen Gemeinde in der Gormannstraße 3 gearbeitet haben. Am 7. Mai 1943 wurde er in der Wohnung seiner Eltern verhaftet. Zehn Tage später wurde die gesamte Familie in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Johanna und Manfred Keil wurden im folgenden Jahr in Auschwitz ermordet. Horst Keil überlebte mehrere KZs und emigrierte 1946 in die USA. Sein Vater Reinhard Keil erlebte die Befreiung in einem Außenlager des KZ Dachau, verstarb aber kurz darauf.
Nachbarschaft
In der Charlottenburger Straße 1 lebten überwiegend nichtjüdische Mieter:innen. Wie sich ihr Kontakt zu ihren Nachbar:innen gestaltete, ist nicht bekannt. Dokumentiert ist jedoch eine Begebenheit: Als der Gerichtsvollzieher nach der Deportation der Jakubowskis in ihre Wohnung kam, um den Wert des zurückgelassenen Eigentums zu schätzen, stellte er fest, dass die Wohnung nur verschlossen und nicht wie gewohnt versiegelt war. Die Hauswartsfrau hatte ihm offenbar erzählt, dass die „Ausgebürgerten [sic] sehr wertvolle Garderobe, gute Wäsche und Teppiche hinterlassen“ hätten. Daraufhin befragte er die ehemalige jüdische Untermieterin Frau Keil. Sie erklärte, dass die „jüdische Hilfe“ die Sachen abgeholt hätte. Vielleicht war es eine Haushaltshilfe der Jüdischen Gemeinde, die die Jakubowskis unterstützte. Der Gerichtsvollzieher vermutete, dass die namentlich nicht genannte „jüdische Hilfe“ die Sachen nun verwerte. Was im Einzelnen passiert war, lässt sich an Hand der knappen Darstellung des Gerichtsvollziehers unter der Inventarliste nicht nachvollziehen. Deutlich wird aber das Interesse der nichtjüdischen Hauswartin und des Gerichtsvollziehers an leicht fortzuschaffenden Waren guter Qualität und der Versuch, das Verschwinden des Begehrten einer namenlosen jüdischen Person, der „jüdischen Hilfe“, in die Schuhe zu schieben.
Quelle: Akte Kurt, Johanna, Klaus und Bertha Jakubowski, BLHA, Rep. 36A (II) Nr. 17333, Bl. 53
Autorin
Jeanette Jakubowski
Bertha Jakubowski, geb. Gutstadt
24.1.1872 in Stettin (Szczecin)
Deportation am 4.10.1942 ins Ghetto Theresienstadt, umgekommen im März 1944
Johanna Jakubowski, geb. Marcus
24.2.1902 in Berlin
Deportation am 29.11.1942 nach Auschwitz, ermordet unmittelbar nach der Ankunft
Klaus Jakubowski
24.6.1929 in Berlin
Deportation am 29.11.1942 nach Auschwitz, ermordet unmittelbar nach der Ankunft
Kurt Jakubowski
10.7.1905 in Berlin
Deportation am 29.11.1942 nach Auschwitz, ermordet am 2.1.1943
Horst Heinz Keil
11.7.1926 in Berlin
Deportation am 17.5.1943 ins Ghetto Theresienstadt, weiter am 28.9.1944 nach Auschwitz, Deportation in das KZ Landsberg, am 10.10.1944 in das KZ-Außenlager Kaufering
Überlebte, Emigration im Juni 1946 über das DP-Camp Deggendorf und das UNRRA Center Bremen in die USA, verstorben 2020 in den USA
Johanna (Hanna) Keil, geb. Herpe
22.11.1901 in Berlin
Deportation am 17.05.1943 ins Ghetto Theresienstadt, weiter am 4.10.1944 nach Auschwitz, ermordet
Manfred Keil
15.2.1930 in Berlin
Deportation am 17.5.1943 ins Ghetto Theresienstadt, weiter am 4.10.1944 nach Auschwitz, ermordet
Reinhard Keil
25.10.1901 in Finsterwalde
Deportation am 17.5.1943 ins Ghetto Theresienstadt, weiter am 29.9.1944 nach Auschwitz, am 10.10.1944 in das KZ Dachau, befreit am 29.4.1945 im KZ Außenlager Kaufering, kurz darauf verstorben
Hans Rosenthal
3.5.1894 in Berlin
Deportation am 3.3.1943 nach Auschwitz, ermordet
Frieda Weiß/Veisz, geb. Witt
6.6.1878 in Berlin
Deportation am 28.3.1942 ins Ghetto Piaski, ermordet
Salomon Weiß/Veisz
28.9.1879 in Vármezö
Deportation am 28.3.1942 ins Ghetto Piaski, ermordet
Emilie Zutrauen, geb. Kochmann
11.8.1884 in Breslau (Wrocław)
Flucht am 27.3.1941 in die USA
Überlebte, verstorben am 14.1.1958 in den USA
Hans Alfred Zutrauen
29.01.1910 in Berlin
Flucht 1937 in die USA
Überlebte, verstorben am 14.10.1982 in den USA
Rudolf Zutrauen
27.6.1908 in Berlin
Flucht am 27.3.1941 in die USA, verstorben am 4.2.1945 als US-amerikanischer Soldat in Luzon, Philippinen