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Kleiststr. 36

Kleiststr. 36

Tempelhof-Schöneberg, heute ein Neubau
Kleiststraße 36/Ecke Eisenacher Straße am U-Bahnhof Nollendorfplatz, um 1905, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Sammlung Ralf Schmiedecke, Berlin
Das damals noch in Charlottenburg gelegene, stattliche Mietshaus verfügte Ende der 1930er Jahre über 16 Wohnungen. Mindestens vier von ihnen wurden als Zwangswohnungen genutzt. Zehn von 18 der dort lebenden jüdischen Menschen wurden nach Auschwitz und in die Ghettos Theresienstadt und Riga deportiert und ermordet. Nur sechs haben überlebt. Dem Eigentümer des Hauses gelang die Flucht in die USA.

Das Haus Kleiststraße 36/Ecke Eisenacher Straße lag zwischen den U-Bahnhöfen Nollendorfplatz und Wittenbergplatz. Seit 1912 war Wolf Chaim Mandel als Eigentümer im Berliner Adressbuch geführt. Mandel stammte aus Brody in der heutigen Ukraine und war jüdischer Herkunft. Im Mai 1941 wurde er von der Gestapo verhaftet. Einen Monat später gelang ihm über Madrid und Lissabon die Flucht nach Kuba. Später wanderte er in die USA aus.

Alle vier Etagen des Hauses hatten drei Wohnungen. Im Erdgeschoss waren Geschäfte untergebracht. In den 1930er Jahren wurden die 6-Zimmer Wohnungen in der ersten und zweiten Etage zu 3- und 4,5-Zimmer-Wohnungen umgebaut. Am 23. November 1943 brannte das Haus nach einem verheerenden Bombenangriff aus.

Straßenarbeiten in der Kleiststraße mit dem U-Bahnhof Nollendorfplatz im Hintergrund, 31. März 1916. Ganz rechts ist das Eckhaus Kleiststraße 36 bis zum 3. Obergeschoss zu sehen. Der Schriftzug „Parfümerie“ gehört zur Kleist-Drogerie, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Museen Tempelhof-Schöneberg/Archiv, Inv. Kls8 | Sig. T-Ss 211
Zeichnung der Kleist-Drogerie, 18. Juli 1928. Darüber die Leuchtreklame „Welt-Detektiv Auskunftei Preis“ in der Kleiststraße 36, Zeichnung: Franz Müller-Merkstein, Lichtreklame Bau. Quelle: Landesarchiv Berlin, B Rep 211 Nr. 1428, Bauakte Kleiststr. 36, Blatt 23
Trümmer auf dem Gelände der Kleiststraße 36, 15. März 1950, Foto: Herwarth Staudt. Quelle: Museen Tempelhof-Schöneberg/Archiv, Sig. Staudt-011-10, CC BY-NC-SA
Grundriss vom 1. Obergeschoss Kleiststraße 36, 9. Februar 1937
Grundriss vom 1. Obergeschoss Kleiststraße 36, 9. Februar 1937. Quelle: Landesarchiv Berlin, B Rep. 211 Nr. 1428, Blatt 139

Wohnungen

1. Obergeschoss vorne

1.OG
Wohnung Hoffmann

Charlotte Hoffmann, geb. Waldbaum, wohnte als Hauptmieterin seit dem 5. Mai 1939 in der 4,5-Zimmer-Wohnung im ersten Obergeschoss. Bei ihr lebte ihr Sohn Gerhard aus der Ehe mit dem nichtjüdischen Eduard Albert Walter Hoffmann. Nach etwas mehr als vier Jahren Ehe ließen sie sich am 20. November 1937 scheiden. Obwohl die sogenannte „privilegierte Ehe“ bereits geschieden war, befreite das Sippenamt Charlotte Hoffmann aus diesem Grund von der Pflicht, den sogenannten „Judenstern“ an der Kleidung tragen zu müssen. Auch Gerhard Hoffmann, der als „Mischling 1. Grades“ galt, erhielt diese Erlaubnis. In den 1950er Jahre schilderte der ehemalige Hausverwalter, Hans Schierse, welche Reaktionen es in der Nachbarschaft hervorrief, als Charlotte Hoffmann aufhörte, das diskriminierende Symbol zu tragen:

„Im gleichen Hause befand sich die Drogerie von Richter. Die Inhaberin derselben machte mich […] darauf aufmerksam, daß Frau Hoffmann nunmehr ohne Judenstern herumlaufe und was ich dagegen zu tun gedenke? Hierauf erwiderte ich: Ich habe mich anhand von Unterlagen davon überzeugt, daß Frau Hoffman keinen Judenstern mehr zu tragen brauche.“
Zitat aus: Entschädigungsakte Charlotte Hoffmann, LABO Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 11 308, Blatt C16a, Eidesstattliche Versicherung des Hausverwalters Dr. Hans Schierse vom 28. Februar 1955
Stern zur Kennzeichnung „jüdischer Wohnungen“, undatiert. Quelle: Bundesarchiv, R 8150/19
„Frau Charlotte Hoffmann ist mir seit 1926 bekannt. Wir haben enge freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Ich kann daher [...] bestätigen, dass Frau H. Sternträgerin war und dass sich auch an der Wohnungstür ein Judenstern befunden hat. [...] Frau H. [wurde] nebst Sohn zur Gestapo bestellt, wo man ihr, da sie eine privilegierte Jüdin war, den Judenstern abriß, den sie lediglich irrtümlich getragen hatte.
Zitat aus: Entschädigungsakte Charlotte Hoffmann, LABO Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 11308, Blatt 15. Aus einer Erklärung vom 6. September 1951 von Frau Anna Nuthmann, geb. 20. November 1897, wohnhaft in der Apostel-Paulus-Straße 40

Ab Februar 1942 musste Charlotte Hoffmann bei der Firma Krause in Reinickendorf Zwangsarbeit leisten. Am 27. Februar 1943, dem Tag der „Fabrik-Aktion“, wurde sie von der Zwangsarbeitsstelle verschleppt – vermutlich in die Markthalle III in der Mauerstraße 82. Wegen ihrer früheren „privilegierten Ehe“ mit einem Nichtjuden und des Status ihres Sohnes Gerhard („Mischling 1. Grades“), wurde sie wieder entlassen. Als Charlotte Hoffmann im März 1944 in der Albrecht-Achilles-Straße einen untergetauchten jüdischen Bekannten, einen gewissen Herrn Rachmann, besuchte, den sie unterstützte, wurde sie von der Gestapo verhaftet. Sie und ihr Sohn Gerhard wurden in das Sammellager Schulstraße gebracht. Danach musste sie 15 Wochen im Arbeitserziehungslager Fehrbellin bleiben. Dann kam sie in das Sammellager Große Hamburger Straße. Von dort wurde sie in das KZ Ravensbrück verschleppt. Mit einem sogenannten Polentransport kam sie in die Aussen- und Arbeitslager Helmstedt-Beendorf, Hamburg-Langenhorn und -Eidelstedt. Sie wurde im Mai/Juni 1945 aus einem Zwangsarbeitslager in Hamburg-Bahrenfeld entlassen. Den elfjährigen Gerhard nahm während ihrer Haftzeit das befreundete Ehepaar Wilhelm und Anna Nuthmann, die in der Apostel-Paulus-Straße 40 wohnten, auf. Im September 1945 kam Charlotte Hoffmann nach Berlin zurück.

Charlotte Hoffmann, nach 1945, Fotograf:in unbekannt. Quelle: LABO Berlin, PrV-Aktenteil Reg.-Nr. 11 308/211 929
Gerhard Hoffmann, nach 1945, Fotograf:in unbekannt. Quelle: LABO Berlin, PrV-Aktenteil Reg.-Nr. 11 308/211 929

Als Untermieter lebte Erich Waldbaum in einem Zimmer der Wohnung. Wann er in der Kleiststraße 36 zog, ist unklar. Im Mai 1939 wohnte er noch in der Akazienstraße 3. Er war Zwangsarbeiter bei der Firma Rudolf & Pietsch in der Lützowstraße 38. Am 1. Februar 1943 wurde sein gesamtes Vermögen von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) eingezogen. Seine Zimmermiete bezahlte er zuletzt am 28. Februar 1943. Wenige Tage später, am 3. März 1943, wurde Erich Waldbaum nach Auschwitz deportiert. Seine Privatgegenstände wurden am 5. Juni 1943 als wertlos geschätzt und somit nicht aus dem möblierten Zimmer geräumt. In der Akazienstraße 3 erinnert heute ein Stolperstein an Erich Waldbaum.

Seit August 1941 wohnte außerdem der Kaufmann Oskar Hollaender zur Untermiete in einem möblierten Zimmer der Wohnung. Er war Witwer. Seine Frau Fryderyka Ukrainczyk starb am 25. Dezember 1933 in ihrer gemeinsamen Wohnung in der Martin-Luther-Straße 42. Das Ehepaar hatte keine Kinder. Oskar Hollaender war zuletzt bei der Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn als Zwangsarbeiter beschäftigt. Nur wenige Monate nach seinem Einzug wurde er am 27. November 1941 in das Ghetto Riga deportiert und dort bei seiner Ankunft ermordet.

Seit Januar 1942 wohnte auch Katharina Carsch, geb. Wohlgemuth, zur Untermiete in einem möblierten Zimmer bei Charlotte Hoffmann. Sie lebte allein, nachdem sie und ihr zweiter Ehemann Salli Carsch sich 1932 scheiden ließen. Bei der Vermögenserklärung vom 27. Januar 1943 verfügte sie über kein Bargeld, Guthaben oder Wertpapiere. Sie erklärte jedoch, mit ihrer zehn Jahre jüngeren Schwester Gertrud Charlotte Van Vlymen das Wohnhaus in der Ludendorffstraße 40 zu besitzen. Katharina Carsch wurde am 3. Februar 1943 nach Auschwitz deportiert und wenig später ermordet.

Grundriss vom 2. Obergeschoss Kleiststraße 36, 31. August 1933
Grundriss vom 2. Obergeschoss Kleiststraße 36, 31. August 1933. Quelle: Landesarchiv Berlin, B Rep. 211 Nr. 1428, Blatt 91

2. Obergeschoss vorne

2.OG
Wohnung Aszkenazy

Markus und Maria (Marja) Aszkenazy, geb. Reissmann, mieteten ab 1936 eine 3-Zimmer-Wohnung mit Küche, Bad und Kammer. Die Wohnung hatte Warmwasser und Ofenheizung. Im Berliner Adressbuch sind sie unter der Adresse Kleistraße 36 nur für die Jahre 1940 und 1941 eingetragen. Markus Aszkenazy flüchtete am 10. Oktober 1938 nach Argentinien. Maria Aszkenazy aber lebte weiterhin mit ihren zwei Söhnen Manfred und Erwin in der Wohnung. Sie war Verkäuferin und vermutlich als Zwangsarbeiterin bei der Siemens & Halske AG, Abteilung Wernerwerk F eingesetzt. Am 1. Januar 1942 wurde das gesamte Vermögen von Maria Aszkenazy und ihren Kindern zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Am 12. Januar 1943 wurden Erwin und Manfred und ihre Mutter nach Auschwitz deportiert. Die Wohnung wurde am 19. April 1943 geräumt.

Als Untermieterin lebten seit dem 21. Mai 1941 die verwitwete Rose Mendelsohn, geb. Müller, und ihre Tochter aus erster Ehe, Lilli Henoch, in einem Zimmer der Wohnung. Sie zahlten bis einschließlich August 1942 50 RM monatliche Miete an Maria Aszkenazy. Vorher hatten sie über viele Jahre mit dem 1938 verstorbenen Ehemann und Stiefvater Mendel Mendelsohn in der Haberlandstraße 11 in einer 6-Zimmer-Wohnung gewohnt. Die Haberlandstraße wurde 1938 in Treuchtlinger Straße umbenannt; der jüdische Namensgeber der Straße somit getilgt. Rose Mendelsohn und Lilli Henoch wurden am 5. September 1942 in das Ghetto Riga deportiert und ermordet.

Rose Mendelsohn mit ihren beiden Töchtern Lilli (rechts) und Suse, um 1908, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Privatbesitz Martin-Heinz Ehlert
Lilli Henoch, 1938, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Privatbesitz Martin-Heinz Ehlert

Lilli Henoch hatte an der Preußischen Hochschule für Leibesübungen studiert. Sie schloss die Hochschule als diplomierte Sportlehrerin ab. In der Haberlandstraße gab sie für Erwachsene und Kinder Unterricht in Gymnastik, orthopädischem Turnen, Heilgymnastik und Massagen. Sie war eine bekannte und sehr erfolgreiche Sportlerin im Kugelstoßen, Diskuswerfen, Weitsprung und bei der 4 x 100 m Staffel. Sie gewann Meisterschaften und stellte Weltrekorde auf. Sie leitete mehrere Damenabteilungen des Berliner Sport-Clubs. 1933 wurde ihre Mitgliedschaft im Verein gestrichen. Danach konnte sie sich nur noch in jüdischen Sportvereinen und Schulen betätigen. Sie trat dem Jüdischen Turn- und Sportclub 1905 bei. Von 1933 bis 1941 war sie als Turnlehrerin an der jüdischen Volksschule in der Rykestraße tätig.

Weitere Untermieter:innen waren Rudolf Alterthum und seine verwitwete Mutter Elsbeth Alterthum, geb. Isaac. Sie zogen etwa Anfang 1942 in eines der drei Zimmer ein. Rudolfs Vater war der 1925 verstorbene Baumeister Max Alterthum, Gründer und Besitzer der Firma Alterthum & Zadek OHG. Unter anderem hatte er am Hausvogteiplatz die Häuser Nr. 12, das „Haus zur Berolina“ und das Geschäftshaus mit der Nr. 3-4 gebaut. Rudolf musste Zwangsarbeit bei dem Elektrohersteller Blaupunkt in der Köpenicker Straße leisten. In seiner Vermögenserklärung nennt er drei nicht näher umschriebene Ölgemälde. Am 12. Januar 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Seine Mutter Elsbeth Alterthum wurde am 14. August 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie am 25. Februar 1944 ermordet wurde. Die Wohnung wurde am 19. April 1943 geräumt.

„[…] mußte auch Frau Alterthum mitsamt ihren Söhnen Kurt und Rudi ihre Wohnung in der Kaiser Allee aufgeben. Ihnen wurde eine Wohnung von einem Zimmer und Küchenbenutzung in der Kleiststraße […] zugewiesen. Dort wohnte sie mit Ihrem erwachsenen Sohn Rudi. Ich glaube mich zu erinnern, daß eine Zeit lang auch ihr Sohn Kurt bei ihr gewohnt hat. Als das Gesetz herauskam, das die Juden den Judenstern tragen mußten, war ich gerade in der Wohnung der Frau Alterthum anwesend, als sie die Judensterne für sich und ihre Söhne aufnähte. […] Von diesem Zeitpunkt des Judensterntragens an ging sie nur wenig aus dem Haus […].
Zitat aus: Entschädigungsakte Elsbeth Alterthum, LABO Berlin, BEG-Akte Reg-Nr. 54 008, Blatt C5, Eidesstattliche Versicherung der Johanna Heinicke (Schwägerin des Antragstellers Dr. Paul Alterthum, Sohn von Elsbeth Alterthum) vom 21. Dezember 1956
Wohnung Reissmann

Julian Reissmann lebte seit mindestens Mai 1939 als Hauptmieter in der Kleiststraße 36. Davon zeugt auch das Berliner Adressbuch von 1939, wo er als Kaufmann eingetragen war. Er war ein Bruder von Maria Aszkenazy, die mit ihren Kindern in einer Wohnung auf der gleichen Etage wohnte. Julian Reissmanns Name findet sich in einem Verzeichnis von im Oktober 1941 im Dorf Zasovica bei Schabac, Jugoslawien, erschossenen Jüdinnen:Juden. Neben ihm auf der Liste steht eine Frau Elsa Reissmann, geb. am 4. Juni 1914 – vermutlich seine Ehefrau. Wahrscheinlich hatten die Reissmanns versucht, auf dem Landweg nach Palästina zu gelangen und waren in Jugoslawien gestrandet.

Zur Untermiete bei Julian Reissmann lebten Emil und Martha Galliner, geb. Salzmann, mit ihrem Sohn Heinz. Emil und Martha hatten im August 1909 in Berlin geheiratet und betrieben seitdem das Kaufhaus Galliner im brandenburgischen Finsterwalde. Beim Novemberpogrom 1938 waren Emil und Heinz Galliner in das KZ Sachsenhausen verschleppt worden. Als Martha am 10. November 1938 aus dem Hausarrest in Finsterwalde entlassen wurde, ging sie nach Berlin und mietete das Zimmer bei Julian Reissmann. Emil wurde am 14. Dezember 1938 entlassen und zog zu Martha. Heinz Galliner wurde am 29. Dezember 1938 aus dem KZ Sachsenhausen entlassen, nachdem sein Onkel, der Rabbiner Siegfried Galliner, ihm ein Stipendium für die USA beschaffen konnte. Er reiste am 3. April 1939 nach Großbritannien aus. Die Weiterreise in die USA scheiterte am Quotensystem. Emil und Martha Galliner mussten ihren gesamten Besitz unter Zwang verkaufen und verließen Deutschland. Mit der Transsibirischen Eisenbahn gelangten sie am 12. Juni 1941 nach Shanghai, China. Im dortigen Ghetto überlebten sie den Krieg und erreichten schließlich über Umwege 1956 Johannisburg, Südafrika.

Martha Galliner in der Kleiststraße 36, zwischen März 1939 und April 1941, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Aus dem Buch „Epitaph of No Words“ von Jeanine Hack, 2019
Emil Galliner in Berlin nach seiner Freilassung aus dem KZ Sachsenhausen, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Aus dem Buch „Epitaph of No Words“ von Jeanine Hack, 2019
Hanna Galliner beim Besuch in der Kleiststraße am 11. März 1939, Fotograf:in unbekannt. Die älteste Tochter von Martha und Emil Galliner lebte in Frankfurt am Main und arbeitete bei der Jüdischen Gemeinde als Fürsorgerin. Sie beging am 10. Juli 1941 Suizid. Quelle: Aus dem Buch „Epitaph of No Words“ von Jeanine Hack, 2019

Ein anderer Bruder von Emil war Dr. Moritz Galliner. Ihm und seiner Frau Hedwig Galliner, geb. Isaac, gelang es nicht mehr, aus dem Land zu fliehen. Sie schrieben Briefe an ihren Sohn Peter, in den sie die immer unsicherer gewordenen Lebensbedingungen beschrieben. Nachdem ihre Wohnung in der Speyerer Straße 10 im Novemberpogrom völlig zerstört wurde, musste das Paar in die Kaiserallee 134 ziehen. Am 28. Dezember 1942 begingen Moritz und Hedwig Galliner Suizid.

„Aber das Schlafzimmer ist nun auch weg, und die Firma R[ehn] ist heute eingezogen! Vorläufig kommt uns das natürlich noch sehr komisch vor. Hoffentlich werden unsere Couches mal fertig, damit wir dann wieder eine Schlafgelegenheit haben. Jetzt liegen wir auf den Matratzen auf der Erde, das ist auch mal eine Abwechslung.“
Brief von Moritz und Hedwig Galliner an ihren Sohn Peter, 28. Juni 1939. Quelle: Privatbesitz von Jeanine Hack
„Die Fa. Rehn ist inzwischen eingewöhnt und fühlt sich bei uns sehr wohl. [...] Wenn es also genehmigt würde, wären wir schon recht zufrieden. Ob wir die beiden anderen Zimmer auch noch vermieten werden, weiß ich nicht, denn inzwischen ist das Haus verkauft! Du kannst Dir vorstellen, wie entsetzt wir alle sind. [...]. Vorläufig gilt das Haus ja noch als jüdisches Haus, wer weiß aber wie lange?“
Brief von Moritz und Hedwig Galliner an ihren Sohn Peter, 4. Juli 1939. Quelle: Privatbesitz von Jeanine Hack
Grundriss vom 3. Obergeschoss Kleiststraße 36, 30. Oktober 1931
Grundriss vom 3. Obergeschoss Kleiststraße 36, 30. Oktober 1931. Quelle: Landesarchiv Berlin, B Rep. 211 Nr. 1428, Blatt 71

3. Obergeschoss links

3.OG
Wohnung Reicher

Die Hauptmieterin der Wohnung war die Katholikin Maria Reicher, geb. Dusek. Sie war die Witwe von Wilhelm Reicher, der 1903 kurz vor seiner Heirat vom Judentum zum Katholizismus konvertiert war. Wilhelm Reicher starb 1934 in Zitternberg bei Wien. Ab 1938 war Maria Reicher im Berliner Adressbuch unter der Kleiststraße 36 als Privatiere gemeldet.

Als Untermieter lebte Felix Neftel bei Maria Reicher – für 15 Reichsmark monatlich. Er lebte getrennt von seiner Frau Irma Maria (Geburtsname nicht bekannt) und dem gemeinsamen Sohn Hans Franz. Im Berliner Telefonbuch von 1938 ist er für die Kleiststraße 36 mit der Nummer 27 43 64 eingetragen. Er war vermutlich Kaufmann. Felix Neftel ist auf keiner Deportationsliste aufgeführt. In der Kartei des American Jewish Joint Distribution Committee Berlin (Deportationen) findet sich eine Karte zu Felix Neftel: Aus den spärlichen Information wird aber nicht klar, ob er Suizid beging oder überlebte. Sein Vermögen, das nur aus wenigen Kleidungsstücken bestand, wurde am 12. Oktober 1942 eingezogen. Die Wohnung wurde am 17. April 1943 geräumt.

Homosexuellenlokal „Eldorado“ nach der Schließung, Motzstraße 15 (Schöneberg) Ecke Kalkreuthstraße, 5. März 1933, Fotograf:in unbekannt. Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (03) Nr. II6938

Nachbarschaft

Die Nachbarschaft war bis 1933/34 als Zentrum des schwulen und lesbischen Lebens bekannt. In der Kleiststraße 15 gab es seit 1921 das Kleist-Kasino, eine Bar für Homosexuelle. Nach seiner Schließung am 3. März 1933 hatte Ernst Röhm, der Führer der Sturmabteilung (SA), bei Adolf Hitler Beschwerde eingelegt. Daraufhin öffnete die Bar wieder. In der Kleiststraße 10 befand sich bis zu ihrer Auflösung durch die Nationalsozialisten das Logenhaus der deutsch-jüdischen Wohltätigkeitsorganisation B’nai B’rith. Nur wenige Gehminuten von der Kleiststraße 36 entfernt befand sich das Theater am Nollendorfplatz. Doch für die jüdischen Bewohner:innen lag es in weiter Ferne, denn seit dem 12. November 1938 war es Jüdinnen:Juden verboten, Theater, Kinos, Konzerte und Ausstellungen zu besuchen.

Autor

Marc Mendelson

In Gedenken an die jüdischen Bewohner:innen der Kleiststraße 36

Elsbeth Alterthum, geb. Isaac

17.10. 1867 in Berlin
Deportation am 14.8.1942 ins Ghetto Theresienstadt, umgekommen am 25.2.1944

Rudolf Alterthum

26.7.1900 in Berlin
Deportation am 12.1.1943 nach Auschwitz, für tot erklärt am 31. Dezember 1945

Erwin Aszkenazy

21.6.1931 in Berlin
Deportation am 12.1.1943 nach Auschwitz, ermordet

Manfred Aszkenazy

24.2.1929 in Berlin
Deportation am 12.1.1943 nach Auschwitz, ermordet

Maria (Marja) Aszkenazy, geb. Reissmann

29.1.1896 in Posen (Poznań)
Deportation am 12.1.1943 nach Auschwitz, ermordet

Markus Aszkenazy

5.10.1894 in Zurow, Galizien
Flucht am 10.10.1938 nach Argentinien
Überlebte

Katharina Carsch, geb. Wohlgemuth

30.6.1879 in Berlin
Deportation am 3.2.1943 nach Auschwitz, ermordet im März 1943

Emil Galliner

14.6.1881 in Zinten
Flucht am 12.6.1941
Überlebte, verstorben am 18.5.1960 in Johannesburg

Heinz Galliner

18.12.1917 in Finsterwalde
Flucht am 3.4.1939 nach Großbritannien
Überlebte, verstorben am 3.11.1994 in London

Martha Galliner, geb. Salzmann

10.7.1886 in Jeżyce, Posen (Poznań)
Flucht am 12.6.1941
Überlebte, verstorben am 7.10.1959 in Johannesburg

Lilli Margarethe Rahel Henoch

26.10.1899 in Königsberg (Kaliningrad)
Deportation am 5.9.1942 ins Ghetto Riga, ermordet

Charlotte Hoffmann, geb. Waldbaum

30.12.1905 in Berlin
Überlebte, verstorben am 19.4.1974

Gerhard Hoffmann

19.9.1933 in Berlin
Überlebte, verstorben am 7.11.2010 in Berlin

Oskar Hollaender

25.9.1882 in Hamburg
Deportation am 27.11.1941 ins Ghetto Riga, ermordet am 30.11.1941

Rose Mendelsohn, geb. Müller

17.5.1876 in Königsberg (Kaliningrad)
Deportation am 5.9.1942 ins Ghetto Riga, ermordet

Felix Neftel

8.11.1865 in Glogau (Głogów)
Unbekannt, ob Suizid oder untergetaucht

Julian Reissmann

7.3.1909 in Schrimm (Śrem)
Ermordet im Oktober 1941 im Dorf Zasavica bei Schabac (Jugoslawien)

Erich Waldbaum

2.11.1899 in Neumünster
Deportation am 3.3.1943 nach Auschwitz, ermordet am 30. April 1943